Street-Art & Tango-Fieber
Zwei Worte voller Sehnsucht, die auch ein wenig sexy klingen, wenn man sie haucht: Buenos Aires. «Bienvenidos» in der Trendmetropole der Strassenkunst, Café-Bars und Tangotänzer mit feurigem Blick und Gel im Haar, die einen durch die Luft wirbeln und erst am nächsten Morgen wieder auffangen. Das «It-Girl» Südamerikas ist ein Ort voller Vibes, Klischees, Superlative. Auftraggeber lassen sich die kahlen Mauern mit Street-Art von den Stars der Szene verschönern. Nirgends ist die rebellische Kunstform so «edgy» wie in BA. Fünf Monate oder fünf Wochen? Bloss fünf Tage braucht Überflieger Martín Ron, um ein hyperrealistisches Wandbild an die Hochhausfassade zu malen. Die angesagteste Open-Air-Galerie der Welt? Palermo Soho. Das einstige Rotlichtviertel Palermo ist ein Souvenir italienischer Einwanderer. Der Übername Soho eine Hommage an die Graffiti-Szene im gleichnamigen New Yorker Stadtteil.
In Buenos Aires gibt es 40 000 Taxis. An vielen Strassenecken erspäht man bunte Wandbilder. Foto ©
Auf der Plaza Serrano sind die Guides mit der orangen Weste nicht zu übersehen. Täglich von Montag bis Freitag empfangen sie um 15 Uhr Street-Art-Lover und Instagrammer zur «Palermo Graffiti Tour» (ca. 10 Franken). Der Rundgang gehört zum Besten, was die Stadt zu bieten hat. Auch dank dem wandelnden Lexikon Marcela. Hinter jeder Arbeit kennt sie die Story: «Viele meiner Freunde sind Künstler, ihre Werke oft politisch, aber auch poetisch und voller schwarzem Humor.» Das Hipster-Paradies gehört zu den «jüngsten» der 48 Barrios. Die lauschige, pulsierende Oase bietet alles, was es zum Überleben braucht. Innovative Menschen verwirklichen hier ihre Träume. Zum Beispiel Lucciano, der mit witzigen Eis-am-Stil-Kreationen im «Ice Cream Masters» das Herz erwärmt. Seine Mandarinen-Glace ist zum Dahinschmelzen.
Luccianos Mandarinen-Glace im «Ice Cream Masters» in Palermo Soho – zum Schmelzen!
Oder die Seifenmanufaktur Hermanos Sabater der Geschwister Eliana, Martin und Sebastian. Bei ihnen riecht es, als habe der Himmel gerade Waschtag. Schmerzhaft wirds, wenn man sich im Scull-Tattoo-Studio einen Mini-Maradona auf den Oberarm tätowieren lässt. An die Kultserie «Sex and the City» fühlt man sich beim Shopping (Boho-Chic) in den Pop-up-Lagerhallen neben der En Borges Bar erinnert. Ist bei uns Herbst, verwandeln Jacaranda-Bäume Buenos Aires in ein frühlingshaftes Blütenmeer. Wie entspannend, im Full City Coffee House den (besten) Single Origin des Quartiers zu geniessen.
Taffe Lady Im Scull-Tattoo-Studio in Palermo Soho ist ausgefallene Körperkunst Trumpf.
Gourmets zieht es in den Weintempel Malbeceria. Im Gärtchen mit Goldfischteich gibts zur Besänftigung ein Glas Prosecco, wenn der Service mal wieder kollabiert. Sonntags heisst es Schlangestehen vor dem «La Hormiga» (den Lomo probieren!). Überflieger im Quartier ist die Barbecue-Beiz La Cabrera. Auch mit seiner zweiten Parrilla-Filiale «Cabrera Norte» landete Chefkoch Gastón Riveira einen Hit. Die Rolling Stones waren vor zwei Jahren bei ihm zu Gast. Ihre Unterschriften hängen auf Tellern an der Wand. «Sie bestellten ‹Bife de chorizo large›, mit 800 Gramm unser Bestseller.» Nicht fehlen zu einem guten Dinner darf ein Malbec. Zum Beispiel vom Weingut Viñas Don Martin in Mendoza. Der Zürcher Martin Felix Altorfer gründete es 2004. Und so geht es beschwingt hinaus in die Nacht – it’s Tango-Time!
Buenos Aires entstand aus Verlusten. Europäische Einwanderer liessen im 18. Jahrhundert ihre Wurzeln, ihre Familien und ihre Heimat zurück. Die Porteños (das Wort leitet sich von «puerto», Hafen, ab) machten die «Stadt der guten Lüfte» zum kosmopolitischen Mosaik. Kein Wunder, sagt man über die Bewohner, sie seien Italiener, die Spanisch sprechen, sich wie Franzosen benehmen, und denken, sie seien Engländer. Der Tango schenkte ihnen Identität. Die getanzte Liebeserklärung ist bitterzart und zuckersüss. Rasiermesserscharfe Rhythmen, eiskalte Dissonanzen, das wimmernde Bandoneon, dazu die versteinerten Mienen und ein Hauch Erotik.
Tango-Traumpaar tanzen auf der auf der Plaza Dorrego
Es ist diese eigenartige Mischung aus Schmerz und Glück, die beim Zuschauen für Hühnerhaut sorgt. Die Paare tanzen auf dem Trottoir, vor Restaurants, in Shows wie «El Viejo Almacén». Und auf dem Flohmarkt auf der Plaza Dorrego in San Telmo. Selbst mit zwei linken Füssen darf man sich sonntags in die Tango-Klasse von Alberto Goldberg im Tanztempel La Catedral wagen (Sarmiento 4006).
Die Markthalle San Telmo erinnert an Barcelona, der Obelisk an Paris, das Capitol an Washington. Die Zeitreisen in die Vergangenheit fühlen sich kein bisschen gestrig an. Das Restaurant El Federal existiert seit 1864. Auf den Fernet-Branca-Flaschen liegt Staub. Das Nationalgetränk neben Mate-Tee heisst Fernet con Coca. Im Café Tortoni assen schon König Juan Carlos, Gabriela Sabatini und Hillary Clinton butterzarte Medialunas (Gipfeli).
Tango-Virtuose vor dem Café Tortoni
Und im «La Poesía» werden Literaten unter Chorizo-Würsten, die von der Decke baumeln, von der Muse geküsst. Doch Buenos Aires hat auch eine dunkle, dreckige, wütende Seite. Korrupte Politiker und noch korruptere Politikerinnen, Militärdiktaturen mit 30 000 Vermissten und eine Wirtschaftskrise haben das Land an den Rand des Ruins gebracht. Die Inflation liegt bei 35 Prozent. La Boca mit dem Wahrzeichen El Caminito ist ein berüchtigtes Revier.
Entreissdiebstähle sind an der Tagesordnung. Nach 17 Uhr empfiehlt sich, gewisse Ecken zu meiden – es sei denn, man ist mit dem örtlichen Mafiaboss unterwegs. Wenn 60 000 Fussball-Fans in der «Pralinenschachtel» die Boca Juniors anfeuern, ist «hijo de puta» (Hurensohn) noch das Netteste, was der Gegner zu hören kriegt. Diego Maradona wird hier verehrt wie ein Gott. Er hat sogar einen eigenen religiösen Orden mit 70 000 Anhängern. Mit 18 war der Junge aus dem Armenviertel Villa Fiorito Dollar-Millionär. Der kleine Grosse fasziniert die Argentinier wie einst Evita Duarte de Perón. Die Präsidentengattin liegt in einer «bóveda» auf dem Friedhof La Recoleta begraben. Der Besuch in der Totenstadt mit seinen 7000 Mausoleen bewegt.
Evita Peron liegt auf dem Friedhof La Recoleta begraben
Wahrzeichen ist Santiago Calatravas Brücke Puente de la Mujer. DDR-Kräne aus Eberswalde sorgen für Retro- Chic. In der Crystal Bar des Hotels Alvear Icon im 32. Stock behält man bei einem Pisco Sour den Überblick über die bevorstehenden Aktivitäten. Bei einem Konzert im Luna Park ist man den Stars extrem nah. In einem Tag Polo-Spieler werden? Kein Problem auf einer Estanzia auf dem Lande. Die Ponys sind schrecklich lahm. Dafür trifft man mit dem Mallet den Ball. Sehnsucht nach Natur? In einer Stunde ist man mit dem Zug im Tigre-Delta.
Die Docklands von Puerto Madero sind das Nachtschwärmer-Paradies. Die Brücke stammt von Santiago Calatrava, die Hafenkräne sind aus der DDR.
Mit dem Einheimischen Martín Schoo paddelt man im Kajak dem Sonnenuntergang entgegen. Das «Paris Südamerikas» (17 Millionen Einwohner) macht kirre. Und irre. Hier gibt es die höchste Dichte an Psychologen. Das ist Seelenklempner-Weltrekord – noch vor New York. Eine Therapiesitzung geht auch billiger. Fast jeder Taxifahrer ist Psychoanalytiker. «Die Gäste erzählen mir von ihren Sehnsüchten, Sorgen und Seitensprüngen», scherzt Juanito Pereira. «Ich könnte die Sitzbank runterklappen und eine Praxis auf Rädern eröffnen.» Im Alfa brettert er über die 16-spurige Avenida 9 de Julio, als hätte er eine Verabredung mit dem Tod. Nebenbei verrät der pensionierte Professor seine drei persönlichen Highlights: «Eine Backstage-Führung durchs Teatro Colón! Im schönsten Opernhaus der Welt sangen schon Caruso, Pavarotti, die Callas und Cecilia Bartoli. Der sinnlichste Buchladen der Welt ist El Ateneo Grand Splendid. Das eindrücklichste Treppenhaus findet ihr im Palacio Barolo», ruft er und braust davon in die funkelnde Nacht.
Im Teatro Colón betörten schon Maria Callas und Cecilia Bartoli das Publikum.
Es ist diese Vielseitigkeit, die Buenos Aires so faszinierend, so einmalig macht. Wie eine Diva, die alles sein möchte – nur nicht mittelmässig.
TEXT & FOTOS CAROLINE MICAELA HAUGER
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